Parkour: Auf dem Sprung zum besseren Ich

Roger Widmer ist der Erste, der Parkour ausserhalb Frankreichs auf Gemäuer und Geländer brachte. Seit er vor zehn Jahren «ParkourONE» mit­begründet hat, lebt der Münsinger von diesem Sport, der mehr ist als das. 
Über die Philosophie jenseits von gloriosen Grosskatzensprüngen.



Der Himmel über Münsingen ist heiterblau an diesem Mittwochabend, 18.00 Uhr. Aus allen Richtungen strömen sie auf den Vorplatz des Schulhauses Schloss­matt: Frauen und Jungs, Pausbackige, solche mit ernsten Stirnen oder Schalk in den Augen, Dürre und Durch­trainierte. Mittendrin und aufgewärmt wartet Headcoach 
Roger Widmer, mit Cap und weiten Pants, deren Baumwollstoff locker für ein zweites Hosenpaar ausreichen würde.


Sein erster Berührungspunkt mit «Parkour» war kein bewusster und dauerte gerade mal ein paar Sekunden. Beim Zappen erhaschte er eine Sequenz, in der ein Typ das Treppengeländer übersprang. «Genau das will ich auch machen!», meinte er zu seiner Freundin, die heute seine Frau ist. Erst viel später – schliesslich lagen die suchwütigen Smartphones noch nicht griffbereit – fand er heraus, dass es sich bei diesem Typen aus dem TV um David Belle handelte. David Belle gilt als Erfinder des Parkour. In den Wäldern Frankreichs lehrte ihm sein Vater, einst Kindersoldat und Vietnamveteran, eine Methode, bei der es darum geht, Hindernisse in der Umgebung möglichst effizient zu überwinden. Belle übertrug die verspielte Verfolgungsjagd in den 80er-Jahren auf den urbanen Betondschungel des Pariser Banlieues Lisse. Parkour wuchs zu einer Bewegung und er selbst zu einer Berühmtheit heran. «Es war für mich ein Aha-Erlebnis: Um mich zu bewegen, brauche ich nichts, ausser mich und mein Umfeld», denkt Roger Widmer zurück. Nicht einmal das BMX, mit dem er bis dato tagtäglich seine Welt erfuhr. Den TV-Ausschnitt lebhaft vor Augen, schwang er sich am Tag danach hinaus, um das Dorf, in dem er aufgewachsen ist, zu erforschen und buchstäblich zu «begreifen».


«Wettbe­werbe haben mich nie interessiert. Es gibt zu viel Gegen­einander anstelle des Mitein­anders.»

Roger Widmer


Mit der Neugier eines Fünfjährigen

Der Springinsfeld nahm Plätze und «Unorte» auf einmal anders, bewusster wahr: mit den Augen eines Traceurs (franz. «le traceur», «der, der eine Linie zieht»). «Ich habe dort weitergemacht, wo ich als Fünfjähriger aufgehört habe.» Damit spricht er an, wie ursprünglich das Bedürfnis ist, die Umwelt mit Hand und Fuss zu erkunden, unbeschwert, wie es Kinder tun. «Komm von der Mauer runter! Klettere nicht auf den Baum! Tu dies nicht, mach das nicht!» Man höre kulturell bedingt auf, sich frei zu bewegen, kritisiert Roger Widmer, selbst Vater von drei Kindern. Fortan beschritt er neue Wege – oder besser gesagt – er hüpfte und kraxelte sie. Wände wurden zu Sprungbrettern, Geländer zu Reckstangen und Mauern zu Schwebebalken, immer der Nase nach, auch wenn diese manchmal verdammt nah am Asphalt hing. Am meisten reizen ihn Objekte, die keinen erkennbaren Zweck erfüllen, bis er ihnen einen verleiht. Fliegende Jünglinge gehörten, anders als heute, noch nicht zum Ortsbild von Münsingen. Dem befremdlichen Flugkörper hagelten Vorurteile entgegen. Von kopfschüttelnden Passanten liess sich Roger die Flügel gewiss nicht stutzen. Er glaubte an die Rolle vorwärts und setzte zum nächsten Hocksprung an. Während er die Flucht nach vorn wählte, kam er sich selbst näher. «Parkour hat mir geholfen, mich selbst zu finden, obwohl ich mich gar nicht bewusst gesucht habe», erinnert er sich. Und muss schmunzeln. «Für mich ist Parkour mehr Persönlichkeitsschulung als Sport. So abgelutscht es klingen mag, aber: Der Weg ist das Ziel.»


Die Gruppe, heute mit rund zwölf Leuten, bildet einen grossen Kreis. Roger begrüsst die Teilnehmenden und erinnert an die Ziele des Trainings, ehe es ans Muntermachen der Muskulatur geht: Liegestützen, hoch und runter. Dann auf allen vieren rückwärts spurten, zack, zack. Schneller. So schnell es geht. Der Teerboden wetzt an Turnschuhsohlen, Handballen und Leidensfähigkeit. Die T-Shirts tränken sich mit Schweiss. Gerade so stark, wie es für die bevorstehende Challenge gut ist.

Fortan balancierte Roger über Bordsteine von hier nach dort oder schwang sich von Ast zu Ast, jedoch nicht mehr alleine. Ramon Siegenthaler, der bis heute sein Nachbar ist, schloss sich ihm an. Gemeinsam verfeinerten sie das Parkour-Training weiter, an dem mehr und mehr Münsinger mitmachten. «Aufgrund meiner dunklen Hautfarbe glaubte ich, mich mit sportlichem Ehrgeiz profilieren zu müssen, doch Parkour lehrte mich, bescheiden zu sein», erinnert sich Ramon, der als Kind adoptiert wurde. Bald galten andere Werte als «schneller, höher, weiter». Sieht man ihm zu, wie geschmeidig und zugleich kraftvoll er sich über Hindernisse hinwegsetzt, ist klar: Einen passenderen Übernamen als «Black Panther» gibt es nicht. Der 34-Jährige ist einer
der erfahrensten Traceure der Welt, keiner hat mehr Trainings geleitet als er und doch lautet seine Überzeugung: Wenn man glaubt, jemand zu sein, hört man auf, jemand 
zu werden.


Die Gruppe teilt sich auf, die eine Hälfte besammelt sich bei Ramon, die andere bei Roger. Einer nach der anderen klettert auf die schwebende Hängematte aus Seilen, die wackelt wie ein Schiff in den Wogen. Einzeln hangeln sie sich zuerst oben, dann unten durch. Erfahrenere Traceure geben Neulingen Tipps, spornen sie an: «Du schaffst das. Los! Komm!» Roger steht daneben und beobachtet, mit der geballten Faust am Kinn, seiner Denkerpose.



Überflieger: Das Unternehmen aus Münsingen hat mittlerweile Zweigstellen in Berlin, Augsburg, Köln und Düsseldorf.

Weltweit erstes Training in Münsingen Während Ramon Handball-Profi werden wollte, er smashte sich weit nach vorne, träumte Roger schon als Viertklässler vom Goldschmiedeberuf. «Meine Mutter erzählte mir jeweils die Geschichte des Schmuckes, den sie gerade trug», erinnert er sich. Nach vier Jahren Ausbildung – er ergatterte eine von nur vier Lehrstellen in der Deutschschweiz – machte er sich als Goldschmied selbstständig. Es dauerte nicht lange, bis zahlreiche Kunden, sogar solche aus Dubai, Unikate vom frischgeschmiedeten «Goldjungen» anfertigen liessen. «Es hat einfach funktioniert, deshalb suchte ich eine Veränderung», mutmasst er, warum er alsbald sein Atelier weitgehend aufgab, um sein Studium in «Art Education» anzufangen. In der Komfortzone fühlt er sich nicht zuhause. Er malte sich aus, inskünftig als Kunstlehrer zu unterrichten. Doch so weit kam es nicht, jedenfalls nicht im angedachten Sinne: 2008 machte er sein Hobby zum Beruf und gründete mit Felix Stöckli, seinem langjährigen Weggefährten, das Unternehmen «ParkourONE». Im selben Jahr fand in Münsingen das erste organisierte Parkour-Training der Welt statt.

Beim nächsten Posten arbeiten sich die Traceure wie Seiltänzer einen Maschendrahtzaun entlang. Ihre Arme schlenkern wie Schlangen, um Balance ringend. Wer abrutscht, zieht die Gruppe mit, dann heisst es für alle: zurück zum Start. Jede Entscheidung hat Konsequenzen. Auf den angespannten Schultern lastet nicht nur die Verantwortung für sich selbst, sondern für das ganze Team. Einer für alle, alle für einen.


Harte Schale, Werte im Kern

«ParkourONE» steht für «einer für alle, alle für einen» und bringt die Werthaltungen zum Ausdruck, die Roger und sein Team vermitteln. «Nie zuvor erlebte eine Trendsportart ein derart rasantes Wachstum», sagt er. Was zunächst klingt wie ein Segen, ist auch Fluch: Im Wettgeifern um die meis­ten Klicks auf «Social Media», übertönen halsbrecherische Stunts die sensiblen Botschaften und das erforderliche, 
eiserne Training. Auch wenn der Zuschauer ab den bond­artigen Bewegungsabfolgen Bauklötze staunt, ist es nicht das Spektakel, das die Traceure suchen. Jedenfalls nicht, wenn sie Parkour nach «TRuST» ausüben. Parkour nach «TRaining Und STandards» hat Roger definiert, um die Werte zu bewahren und weiterzutragen – und sich abzugrenzen von jenen, die (zu) riskante Jumps wagen um des Applauses willen. «Wir suchen nicht den Kick, sondern die Herausforderung», stellt der 36-Jährige klar. Die Fitness sei gewissermassen ein Nebeneffekt dieser Lebensschule. «Bescheidenheit, Vertrauen, Respekt, Vorsicht und Konkurrenzfreiheit», zählt er die Werte an einer Hand ab. Symbolisch steht jeder Finger für eine Tugend, die Faust für Mut. «Stark sein, um nützlich zu sein», lautet ein Leitsatz, wobei «nützlich sein» im Alltag beispielsweise auch bedeute, einer alten Dame über die Strasse zu helfen. «Zehnkampf gibt es schon lange, TRuST macht den Unterschied», grinst der Senkrechtstarter. Auch Iljana, die früher Handball spielte, befreite sich beim Parkour vom Leistungsdenken. Durch ihren älteren Bruder nahm sie mit 16 Jahren zum ersten Mal an einem Schnuppertraining teil. Erst belächelte sie das Über-Büsche-Hüpfen, doch bald merkte sie, dass sie erstarkte – äusserlich ebenso wie innerlich. «Parkour hat mich selbstsicher gemacht, was auch bedeutet, dass ich meine Grenzen und Schwächen kenne und dazu stehe.»


Vom Bubi bis zum Banker: Coaches vermitteln sowohl Kindern und Menschen mit Behinderung wie auch Spezialeinheiten die Körperkunst.


Fortbewegungskunst mit femininer Seite Betrachtet man die zierliche, junge Frau, wie sie dasitzt mit ihrem überproportional wirkenden Sportrucksack, tun sich unweigerlich Schubladen im Kopf auf: Pädagogik traut man ihr durchaus zu, Parkour hingegen … weniger. Weit gefehlt! Die 24-Jährige arbeitet nicht nur als sozialpädagogische Mitarbeiterin, sondern leitet Weiterbildungen und Workshops für «ParkourONE». Nicht zuletzt weibliche Vorbilder helfen den Frauen auf die Sprünge, sich Parkour zuzutrauen. Bei den Trainings, die in Bern, Münsingen und Thun stattfinden, schwitzen rund ein Drittel Frauen mit. Iljana ist überzeugt: Parkour ist keine Männersportart. «Das Training richtet sich nach den eigenen Stärken und Schwächen aus, man orientiert sich am eigenen Körper, nicht an der Leistung anderer. Deshalb sind Geschlecht, Alter oder Erfahrung irrelevant.» Frauen beschäftigen sich intensiv mit den Inhalten, beobachtet Silvana Werren, und bestätigt, dass Parkour ein Fass an Emotionen auftut. Sie ist selbst Headcoach und zudem für die Administration bei «ParkourONE» verantwortlich. «Man tritt automatisch in einen inneren Dialog, das Feedback ist unmittelbar und lässt keinen Interpretationsspielraum offen.» Wer vermutet, diese schonungslose Antwort zeige sich in gebrochenen Knochen und blutigen Wunden, irrt sich. Erste Resultate der Studie, die Iljana zurzeit erarbeitet, zeichnen ein klares Bild: Bei Parkour nach «TRuST» entspricht das Verletzungsrisiko etwa jenem von Snowboarden oder Moun­tainbiking. Einen der Gründe dafür sieht Iljana darin, dass Parkour nach TRuST nicht kompetitiv ist: «Risiken einzugehen, wird umso wahrscheinlicher, wenn man sich im Wettkampf misst.» Das Risiko sei kalkuliert, wirft Roger knallhart ein.

«Parkour lehrt einem, sich den Hindernis­sen im Alltag zu stellen, statt auszuweichen – und Hilfe an­zunehmen.»

Iljana Käufeler


2024 erstmals olympisch? Blaugrüne Flecken oder Kratzer gehören dazu, wenn man sich in irgendeiner Form bewege. «Ich setze mich in dem Moment Verletzungsgefahren aus, wenn ich morgens auf­stehe», kokettiert er, «Spass beiseite: Ich mache nur das, wovon ich sicher weiss, dass es mir gelingt.» Man lerne, Angst rational einzuordnen: Ist sie berechtigt, gesellschaftlich auferlegt oder hausgemacht? Dem edlen Gedanken der Konkurrenzfreiheit stellt sich die Tatsache in die Quere, dass Parkour schon bald eine olympische Disziplin ist, wenn es nach gewissen Kreisen geht. «Das ist mit Parkour nach TRuST nicht kompatibel», fasst sich Roger kurz. Gegen etwas zu sein, entspricht nicht seiner Einstellung. «Ich fokussiere mich darauf, wofür ich einstehe. Unsere Academy weiterzuentwickeln, Menschen zu begleiten, Blockaden zu lösen und glänzende Kinderaugen zu sehen, ist viel spannender, als gegen etwas anzurennen.»

Die Shirts sind nun nasser, als es gut tut, die Knie weich, 
die Stirnen schweissperlenbesetzt. Für die letzte Übung bildet die Gruppe erneut einen Kreis. Einzeln robbt jeder Teilnehmer unter den anderen hindurch, die im Vierfüsslerstand ausharren. Der harte Belag bringt Fingern, die es gewohnt sind, über Bildschirme zu streicheln, wieder das Fühlen bei. Morgen 
werden sie wiederkommen, um ein bisschen besser zu sein als heute.


Manche sagen, alles was Roger anfasse, werde zu Gold. So erfüllte er sich mit dem Kleiderlabel «ETRE-FORT», das er 2012 zusammen mit seinem Geschäftspartner lanciert hat, einen weiteren Traum. Die textilgewordene Parkour-Philosophie besteht aus sportlichen, aber alltagstauglichen Kleidungsstücken, entworfen von verschiedenen Jungdesignern. Die Hoodies, Caps und Baggypants aus Bern ziehen um die Welt: 85 % der Bestellungen kommen aus dem Ausland. Auf die Frage, ob ihn der Erfolg stolz mache, erwidert er: «Stolz ist das falsche Wort. Ich bin dankbar, dass ich das machen darf.» Roger mustert seine Hand, gezeichnet vom groben Gelände, vom Daumen bis zum kleinen Finger. Dieser steht für Bescheidenheit. Foto: Nadine Strub / ParkourONE


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