Franz Gertsch zählt zu den grössten Künstlern der Gegenwart. Die Gegenwart ist es indes, die ihn seit 50 Schaffensjahren beschäftigt: An Werken, realer als manche Wirklichkeit, malt und schneidet er tagein, tagaus, auch mit 87 Jahren.
Nichts als Grün und die sich windende, graue Strasse hat man vor sich, bis sich auf dem Rüschegg-Hügel ein Bauernhaus abzeichnet, dahinter der Spitz des Kirchenturms. An diesem beschaulichen Fleckchen Erde, wo das Stadtleben unermesslich weit weg scheint, leben Maria und Franz Gertsch seit über 40 Jahren. «Damit kann man jeden Künstler quälen», meint Gertsch auf die Frage, was denn Kunst überhaupt sei. Er lacht und blickt vor sich auf das weisse Tischtuch, auf das dunkelblaue Porzellan mit Goldrand und die «Bretzeli». Kakteen in Terrakottatöpfen strecken ihre Dornen zaghaft in den Wintergarten aus, ihre Kraft reicht immerhin für einige Zentimeter. Hinter den grossen Scheiben bewegt sich die Natur Rüscheggs im Wind, als würde sie Gertsch dazu auffordern, sie zu malen. Die Motive seiner letzten Werke fand er in dieser nächsten Umgebung, rund um das Haus, wo die Bäume dicht beieinander stehen. «Wenn ich heute durch unser kleines Wäldchen spaziere, ist es ein befreiendes Gefühl, das gemalt zu haben. Es ist abgeschlossen», beschreibt der 87-Jährige. Hüpft er in seinen Pantoffeln über die Stufe, die Stube und Atelier verbindet, merkt man ihm sein Alter kaum an. Schon eher, wenn er sich in den Stuhl mit Rollen fallen lässt, dem man die unzählbaren Stunden ansieht, die der Künstler auf ihm gesessen hat, um Millimeter für Millimeter seiner Diaprojektion zu folgen. Beginnt er mit einem Bild, an dem er durchschnittlich rund ein Jahr lang arbeitet, wählt er eine interessante Stelle irgendwo in der Mitte. Der Anfang und der Abschluss haben ihm nie Sorgen bereitet, erzählt er. «Es gibt aber bei jedem Bild einen Moment, in dem mich die Vorlage angreift», führt er aus, «ein Kampf.»
«Ich habe noch viele Ideen, gemessen an meinem Alter wohl zu viele.»
Franz Gertsch
Seine Mitstreiterin ist seit 54 Jahren Ehefrau Maria Gertsch, darüber hinaus ist sie Muse, Mutter, Macherin – und «Mutzusprecherin». Denn er habe nie aufgehört zu zweifeln, so der Künstler, auf dem Diwan hockend. Maria Gertsch erzählt von den Bäumen, die sie vor dreissig Jahren rund um das Haus gepflanzt haben. Des Künstlers Sehnsüchte schweifen in die Ferne: In seinem neusten Werk «Meer» beschäftigt er sich auf 2400 x 3400 mm mit dem aufgewühlten Meer nach einem heftigen Morgengewitter. Fehlt das Meer in seiner Heimatoase? Der Horizont ist nah, vom Fenster aus blickt man auf eine gräserne Ebene. «Ich stelle mir immer vor, direkt dahinter sei das Meer», spricht Gertsch langsam. Das spärliche Licht im Atelier sucht sich seinen Weg auf einzelne Punkte des Holzschnitts, auf dem er in täglich rund fünf Stunden Arbeit einige Quadratzentimeter mit seiner Handschrift erfüllt. «Man sollte den Betrachtern etwas zumuten, sie sollen sich fragen, warum die Bilder so gross sind, und ob sie diese lieber kleiner hätten», sagt er, auf seine Grossformate angesprochen. «Ich wollte, dass man an meinen Bildern nicht mehr einfach so vorbeiläuft», schmunzelt er. Seine Werke wirken in den Raum hinein, spielen mit wechselnder Nah- und Weitsicht, mit Abstraktion und Realität. Zurzeit entsteht ein Bildband, der Franz Gertschs Schaffen vollumfänglich dokumentiert – das sei wohl nur möglich, weil er so wenig gemacht habe, schalkt er. Schon in jungen Jahren fühlte er sich als Künstler, doch die Eltern hatten andere Vorstellungen: Zeichenlehrer oder Pfarrer. «Aber ich war ein derart schlechter Schüler, dass das gottlob gar nicht möglich gewesen wäre.» Auf die Frage, was Kunst ist, gebe es für ihn eine einfache Antwort: Es gehe darum, die Realität in eine Bildrealität umzusetzen … in eine Gegenwart nach Gertschs Gesetzmässigkeiten.


Ein eigenes Museum
Zuerst das Museum, dann die Werke – mitnichten! Beim «Museum Franz Gertsch» war es umgekehrt. Tief beeindruckt von Franz Gertsch, entschloss sich Willy Michel dazu, ein Museum für dessen Werk zu errichten. An die feierliche Eröffnung 2002 erinnert sich Franz Gertsch nebulös, «tumultuarisch» sei es gewesen. Sein Wunsch, dass ein breites Publikum seine Werke sehe, ging damit in Erfüllung. Das Museum, das bequem mit der Bahn erreichbar ist und nur fünf Gehminuten vom Bahnhof Burgdorf entfernt liegt, zeigt auch regelmässig Wechselausstellungen zeitgenössischer Kunst. Geht es nach den Plänen der Willy-Michel-Stiftung, beginnen diesen Sommer die Bauarbeiten für zusätzliche Ausstellungsräume.
Aktuelle Ausstellung
Noch bis am 13.8.2017 präsentiert das «Museum Franz Gertsch» neue und noch unbekannte Werke von Franz Gertsch, darunter das im Januar fertig gestellte Gemälde «Meer». Zudem ist der ebenfalls neue Holzschnitt «Winter» zu sehen, entstanden aus vier Drucken aus dem Vier-Jahreszeiten-Zyklus. Mit diesem hat Franz Gertsch seine Spaziergänge durch Rüschegg verewigt und damit Hauptwerke seines späten Schaffens kreiert. Nebst dem «Museum Franz Gertsch» in Burgdorf bietet die Region weitere spannende Ausflugsziele wie Museen, E-Bike-Touren oder Wanderungen. www.bls.ch/heimatland
Fotografin: Nadine Strub